Ein Essay für Journalistinnen und Journalisten, die ausgeschaltet werden... 🫣 recherchiert und geschrieben von Leonid Klimov
Es ist September 2018, Harford, Connecticut. Die Organisation Farm Aid organisiert ein Wohltätigkeitskonzert zur Unterstützung familiär geführter landwirtschaftlicher Betriebe in den USA. Es spielen mehrere Country-Sänger·innen, in Cowboyhüten und Fransenjacken. Einer von ihnen: Lukas Nelson mit seiner Band „Promise of the Real“.
Nelson singt seinen neuen Song. Er glaubt, dass jeder Mensch eigentlich ein gutes Herz habe. Manche nutzten es jedoch zu wenig. Hass sei ein Symptom unserer Zeit. Er möchte Liebe empfinden, solange er kann und alle anderen Gedanken verwirren ihn nur. Er will nicht versuchen, das alles zu verstehen. Vielleicht sollte er am besten… die Nachrichten ausschalten?
Da ist er nicht allein: das Publikum ruft ihm jubelnd zu, nicht nur in Harford, sondern in mehreren anderen Orten, in denen er mit dem Song in den kommenden Jahren auftreten wird. Warum feiern die Menschen das?
Einer der Gründe sind die (pseudo) szenischen Einstiege, wie dieser hier mit dem Konzert in Hartford. Über andere Gründe erfährst Du in dem folgenden Text.
Etwa ein Jahr vor dem Konzert in Hartford schließt Clara (damals 29) ihr erstes News-Abo bei ZEIT Online ab. Etwa zur gleichen Zeit reist Michael geschäftlich in die USA – nach Minneapolis, Minnesota. Im Hotel schaltet er automatisch das Fernsehen an und klickt sich durch die Programme. Er guckt ein paar Nachrichtensendungen und schaltet es wieder aus. Ob in Amerika oder anderswo (er war viel unterwegs) fand er die deutschen Medien immer überlegen. „Sie hatten so eine extreme Ernsthaftigkeit und vertrauenswürdige Art“ - sagte er. Vor dem Einschlafen greift er jedenfalls zum Handy und hört Deutschlandfunk.
Im gleichen Jahr fängt das Reuters Institute an, weltweit Daten zu Nachrichtenvermeidung zu sammeln. Auf die Frage „Vermeidest du heutzutage aktiv die Nachrichten“ haben viele Menschen „Ja“ gesagt. Viele heißt: fast jeder Dritte.
In der Gesamtwertung schneidet Deutschland mit 24% noch relativ gut ab, insbesondere im Vergleich zur Türkei und zu Griechenland (beide an der Spitze mit 57%), aber auch besser als die USA (38%). Falls jemand das damals Michael gefragt hätte, hätte er definitiv „nein“ geantwortet. Clara auch. Sie lieben die Nachrichten. Sie sind „News Lovers“.
In der Medienforschung wird als „News Lover“ eine überschaubare Gruppe der News-Nutzer·innen bezeichnet, die die Nachrichten mehr als 10 Mal pro Tag nutzen, also richtig, richtig oft. In Deutschland 2024 sind das 8 Prozent. Diese Zahl bleibt über die Jahre konstant. Auch in anderen westlichen Ländern gibt es in der Regel knapp unter 10 Prozent „News Lover“.
Vor sieben Jahren war Clara in den letzten Zügen ihres Masterstudiums. Sie schließt das Zeit-Online-Abo ab, lädt die App herunter und ist ziemlich zufrieden. Sie findet die Zeitung super, vor allem die Reportagen, aber auch andere Texte zu gesellschaftlichen Themen und Ideen. Sie liest gerne und schaut regelmäßig, ob es etwas Neues zu lesen gibt. Und es gibt immer etwas. Immer. Ständig. Sie liest es aber trotzdem. Es macht Spaß und sie hat auch Zeit dafür.
Irgendwann läuft die Zeit von Claras ZEIT-Abo ab. Etwas länger nutzt sie noch die ZEIT-App, dann fliegt auch sie vom Handy. Das war ein langer Prozess.
Clara und Michael sind reale Menschen, sie heißen aber eigentlich anders. Ich habe mit beiden im Rahmen meiner Recherche zu News Avoidance ausführlich gesprochen. Einige persönliche Details, durch die eine Identifizierung möglich wäre, habe ich ein bisschen geändert. Im Text werden immer wieder auch andere Menschen erwähnt – Tom, Daniel, Jonas, Maria, Jule und Lucia. Auch sie habe ich interviewt.
Wir kehren aber wieder in das Jahr 2017 zurück und verlassen kurz Michael und Clara mit ihren liebsten Nachrichtenquellen. Wir schauen uns erstmal die trockenen Zahlen an, die uns die Wissenschaft liefert. Da gibt es nämlich spannende Dynamiken. Weltweit und in Deutschland.
2017 gibt es in der Branche eigentlich wenig Grund zur Panik. Wenn man alle Menschen zusammenzählt, die von sich sagen, sie vermeiden oft, manchmal oder vereinzelt Nachrichten, kommt man auf 49 %. Fast die Hälfte, aber es ist verkraftbar.
(Übrigens: Die Daten sind eigentlich in allen Grafiken in diesem Text gerundet, daher kommt es manchmal, dass es knapp mehr oder weniger 100 % ist.)
Ursprünglich weiß auch niemand so recht, was man mit dieser Zahl anfangen soll: Ist das viel? Ist das wenig? Man weiß es schlicht nicht. Denn früher wurde diese Frage in Umfragen nicht gestellt. Bis 2021 hat man die Menschen, die Nachrichten nicht nutzen, sogar extra rausgefiltert.
Für 2018 haben wir keine Daten – das Phänomen schien damals wahrscheinlich nicht so wichtig zu sein, dass man es jährlich verfolgen müsste.
2019 gibt es die Frage aber wieder. Die Zahl hat die 50-Prozent-Marke geknackt – 54 %, also die Mehrheit, vermeidet jetzt Nachrichten.
2022 sind es schon fast zwei Drittel – 65 %.
2024 – knapp 70 %.
Der Anstieg: 20 % in sieben Jahren. Bereits ein Jahr zuvor heißt es im Titel einer Pressemitteilung der Leibniz-Gesellschaft: „Deutsche sind 'nachrichtenmüde'“.
Entsprechend ging auch die Zahl der Menschen zurück, die die Nachrichten nie vermeiden. Deren Zahl hat sich fast halbiert.
Zahlenmäßig weniger spektakulär, doch wahrscheinlich nicht weniger wichtig, ist der Anstieg der Menschen, die die Medien „oft“ vermeiden. Von 5 auf 14 Prozent.
Zum Vergleich: 14 Prozent sind mehr als die Zahl der Menschen in Deutschland, die 2024 bereit waren, für Online-Nachrichten Geld auszugeben. Es ist eine große Zahl.
In vielen anderen Ländern sind diese Zahlen noch höher. Interessant ist jedoch nicht nur die Zahl selbst, sondern die Tendenz: Sie geht nach oben.
Aus der Soziologie wissen wir, dass Mediennutzung in einer reziproken Beziehung (also in einer wechselseitigen Abhängigkeit) mit dem Wissen über Politik und Medienkompetenz besteht. Was heißt das? Vereinfacht gesagt hängen die Kenntnisse über Politik, demokratische Institute, Parteien, sowie unsere Fähigkeit, die Information zu filtern und bewerten, mit der Nutzung von Nachrichten zusammen und zwar wechselwirkend. Wenn Menschen diese vermeiden, verpassen sie also nicht nur die letzten Berichte von den Fronten im russischen Krieg gegen die Ukraine oder die Infos über ein Busunfall mit Dutzenden Opfern, sondern entwickeln nicht die Kompetenzen weiter, die idealerweise alle Bürger·innen eines demokratischen Landes besitzen sollten, um Teil des politischen Prozesses zu sein. Nachrichtenvermeidung hat also mit Demokratie zu tun.
Soweit die Theorie.
In der Praxis geht es jedoch gar nicht so schnell, bereits angeeignete Medienkompetenz und (politisches) Wissen zu verlieren. Vor allem, wenn eine Person sich über einen längeren Zeitraum damit beschäftigt hat. Ein Beispiel: Michael. Lernen wir ihn ein bisschen besser kennen.
Michael beginnt in den 1980er Jahren, Germanistik und Geschichte auf Lehramt zu studieren. Er stellt schnell fest: Schule ist nichts für ihn. Kinder geben einem zwar viel, man guckt aber irgendwie immer latent nach unten. Er will mit Menschen auf Augenhöhe arbeiten. Auch Geschichte findet er irgendwie zu dröge – es geht immer um irgendwelche Truppenaufmärsche und Jahreszahlen. Er hat aber Wissenshunger, er will die Welt verstehen. Er studiert weiter Germanistik, aber von Geschichte wechselt er zu BWL.
Diese Fächerkombination ist nicht unbedingt naheliegend, für Michael aber sehr reizvoll. Über die Welt kann er in der Kombi viel lernen. Bei den Germanisten über den Menschen: Literarische Werke sind ja immer eine Art Menschenstudien, die über menschliche Psyche und Befindlichkeiten erzählen. Michael hält die Germanisten zwar für Traumtänzer, die auf einer Insel lebten mit ihren Büchern. Sie hätten aber Esprit. Den hätten wiederum die BWLer nicht. BWL-Studenten seien langweilige Typen, solche, bei denen der Vater eine Firma hat und die dann mit 18 ihren ersten Golf GTI vors Haus gestellt bekommen. Sie seien oft geistlos, hätten aber eine krasse Weltzugewandtheit, findet Michael. Bei BWLern lernt man auch zwangsläufig Volkswirtschaftslehre und somit auch viel über Handel und Beziehungen in der Welt.
An der Schnittstelle zwischen Germanistik und BWL entsteht eine kleine Zeitschrift, die Michael noch während des Studiums gründet. Er hat damit finanziellen Erfolg. Nach dem Studium gründet er einen Verlag. Dann noch einen.
Es geht stets aufwärts – finanziell und sozial. Bis er sich Jahre später auf einmal aus der Gesellschaft ausgeschlossen fühlt. Die Medien spielen dabei eine entscheidende Rolle.
Da er sich das leisten kann, will er nun die Gesellschaft aus seinem Leben ausschließen. Er fängt mit Nachrichten an. Er wird zum Nachrichtenvermeider. Wenn er darüber spricht, wird er emotional.
Was ist denn da passiert? Wir kommen später dazu. Erst einmal: Wer sind das denn überhaupt, die Nachrichtenvermeider·innen?
Hauptmerkmal von einem oder einer Nachrichtenvermeider·in ist logischerweise: Er oder sie vermeidet Nachrichten. Soweit klar.
Ich habe mit vielen Menschen gesprochen, die von sich selbst gesagt haben, sie vermieden Nachrichten. Michael und Clara sind nur zwei davon. Noch einer ist beispielsweise Daniel (30, „young professional“). Wir treffen uns Mitte Juli 2024 in einem Café in Berlin. Er ist sehr stolz darauf, Nachrichten ausgeschaltet zu haben. Wenn ich ihn nach dem Attentat auf Donald Trump ein paar Tage zuvor frage, ist er jedoch gut informiert (und ebenso stolz darauf). Er habe die Nachricht in Social Media gesehen und dann bei der New York Times nachgelesen. Dann las er noch ein paar Hintergrundartikel dazu, wie sich die Tat auf die US-Wahlen auswirken könnte. Genauso ist es bei anderen Themen, über die wir sprechen. Wirklich konsequent ist er also nicht. Wirklich konsequent ist es aber selten.
Wenn man Lukas Nelson fragen würde, der mit seinem Song zur Nachrichtenvermeidung aufgerufen hat, wird er sich vermutlich auch informiert zeigen. In einem Interview stellt er klar: „I’m not saying ‘Don’t be informed’“. In einem anderen ist er noch kategorischer: „I think we should stay informed“. Er fügt jedoch hinzu: „But with the exception of listening to a little NPR [National Public Radio] every once in a while, I think we should turn off the news and build a garden“.
Also, nun mal ehrlich: Sollte man Nachrichten aus dem Weg gehen oder nicht? Lass mich überlegen… hmmm… Jein!
So war es nämlich mit den meisten Menschen, mit denen ich gesprochen habe. Manche definieren sich als Nachrichtenvermeider, bei manchen ist es sogar fast ein Teil der Identität. Viele von Ihnen nutzen Nachrichten jedoch kontinuierlich. Es gibt aber auch andere Menschen: sie nutzen kontinuierlich keine Nachrichten, würden jedoch nicht sagen, dass sie aktiv etwas unternehmen, um die Nachrichten zu vermeiden. „Nachrichtenvermeidung“ kann also eine Zuschreibung von außen sein.
Und das ist generell ein spannender Punkt. Auch in der Forschung. Manche Wissenschaftler·innen unterscheiden zwischen „intentional“ und „unintentional“ news avoidance, also zwischen denjenigen, die die Nachrichten absichtlich und unabsichtlich NICHT nutzen.
Die Zahl der Menschen mit absichtlicher Nachrichtenvermeidung misst zum Beispiel der Digital News Report (DNR). In der Umfrage wird explizit danach gefragt, ob die Befragten versuchen, „heutzutage manchmal aktiv, Nachrichten zu vermeiden“ (Do you find yourself actively trying to avoid news these days?). Wie kann man wissen, inwiefern der Versuch gelungen ist? Wie hängt es mit der tatsächlichen Nutzung der Nachrichten zusammen? Die Frage stellten sich 2024 erstmals auch die Autor·innen des Digital News Reports. Schauen wir wieder auf die Zahlen.
So sehen die Daten aus, wie sie im DNR abgefragt wurden.
Wenn man die Zahlen zur Nachrichtennutzung 2024 anschaut, sieht alles erstmal ziemlich gut aus: 89% nutzen die Nachrichten mindestens mehrmals wöchentlich.
Und mehr als die Hälfte mehrmals pro Tag.
Die Zahl der Menschen, die Nachrichten weniger als 1 Mal pro Monat oder nie nutzen, liegt 2024 bei 4 Prozent.
Diese Zahl bleibt seit 2021 auch konstant. Warum erst seit 2021? Früher wurden diese Menschen aus der Analyse ausgeschlossen.
Damit es ein bisschen übersichtlicher ist, nutzen wir die sogenannte „five-point classification“, die die Antworten in fünf Gruppen zusammenfasst:
1. News Lovers - eine traditionell relativ kleine Gruppe der Nutzer·innen, die die Nachrichten mehr als zehn Mal täglich nutzen.
2. More Frequent News User - auch eine relativ kleine Gruppe, die die Nachrichten zwischen sechs und zehnmal täglich nutzt.
3. Most Typical News User - in dieser Gruppe befindet sich die Mehrheit der Nutzer·innen, sie lesen, hören oder schauen Nachrichten ein bis fünf Mal täglich.
4. Less Frequent News User nutzen Nachrichten seltener als einmal täglich bis mindestens einmal monatlich.
5. Die letzte Gruppe heißt in der Literatur “News Avoider”. Wir nennen es hier und weiter aber “Non-user”. Sie nutzen Nachrichten seltener als einmal monatlich oder nie.
Die Antwort „Ich weiß nicht“ zeigen wir auch ))
Wie wir sehen, die Zahl der Non-User ist relativ klein - „nur“ 4%. Die Frage ist aber: Was ist dann mit all den Menschen, die angeben, Nachrichten zu vermeiden?
Die Frage ist aber: Was ist dann mit all den Menschen, die angeben, Nachrichten zu vermeiden?
Schauen wir nun, wie sich die Nutzungszahlen unter diesen verteilen:
Nicht verwunderlich, dass diejenigen, die Nachrichten mehrmals Nutzen, diese auch am wenigsten vermeiden. 40 und 36 % unter News Lovers und More Frequent News User.
Nicht verwunderlich, ist auch, dass die Menschen, die die Nachrichten so gut wie nie nutzen, diese auch öfter vermeiden.
Wichtig ist aber, dass die Nachrichtenvermeider in allen Nutzergruppen vorkommen. Mehr sogar: in jeder Gruppe sind sie die Mehrheit. Auch unter News Lovers.
Nun drehen wir Daten etwas um und schauen, wie sieht die Zusammensetzung verschiedener Gruppen der Nachrichtenvermeider·innen aus.
Hier sieht man sehr deutlich, dass 60 % der Menschen, die Nachrichten oft vermeiden, diese mindestens einmal täglich nutzen (Typical User). Und jeder zehnte – mehr als sechs Mal (News Lovers & More Frequent News User).
Und nur 14 % von allen, die Nachrichten oft vermeiden, nutzen sie seltener als einmal pro Monat oder nie. In der Hochrechnung unter allen Befragten sind das weniger als 2 %.
Okay, viele Zahlen. Was heißt das alles eigentlich für uns?
Vor allem drei Dinge:
Mit dieser Frage bin ich zu Julia Behre gegangen, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Leibniz-Institut für Medienforschung. Sie hat unter anderem den Digital News Report mitgeschrieben. Sie sagt: „Es gibt eine konsistente Nachrichtenvermeidung auf einer Seite. Und es gibt eine selektive Nachrichtenvermeidung auf der anderen Seite. Es gibt auch eine Korrelation: Die aktive Nachrichtenvermeidung hängt leicht negativ mit der Nutzungshäufigkeit der Nachrichten zusammen. Diese Korrelation ist jedoch schwach“.
Und was heißt das?
„Das heißt, dass wir mit der Frage nach aktiver Nachrichtenvermeidung eher irgendeine Begleiterscheinung von Nachrichtennutzung beobachten“.
Oops… Nachrichtenvermeidung als Begleiterscheinung der Nachrichtennutzung?
Waren wir gerade die ganze Zeit auf einer falschen Spur?
Wer sind dann die Nachrichtenvermeider·innen?
Es ist die höchste Zeit, unseren nächsten Protagonisten vorzustellen: Tom, 38 Jahre alt, er wohnt mit seiner Frau und seinem Sohn am Rande einer Großstadt und arbeitet als Baumpfleger. Allerlei Zeug dazu steht in seinem großen Garten. Da steht auch ein Hühnerstall. Er ist leer – zwei Füchse haben die beiden Hühner vor paar Wochen geholt.
„Die sollen mich alle am Arsch lecken“, sagt Tom, wenn ich nach seinem Interesse an Nachrichten frage. „Die alle“ – das sind vor allem Politiker, nicht die Journalisten. Journalisten schreiben halt einfach das, was Politiker ihnen zu schreiben geben. Unabhängig vom Thema, aber vor allem bei Corona. Aber auch beim Krieg in der Ukraine und sonst auch egal was – es sei immer dergleiche „Scheiß“, der keinen interessiert.
Er habe schon immer kein Interesse an Medien und Politik gehabt - gar keins. In seiner Familie wurde über Politik auch nie gesprochen. Die Tagesschau – ja, die lief irgendwie im Hintergrund, aber warum sollte man den Leuten da im Kasten glauben, wenn jedes Wort einfach gelogen ist. Jedes einzelne Wort. Die AfD sei Scheiße, Linke seien Scheiße, Grüne auch. Es sei ja im Grunde egal, wo man das Kreuz setzt. Alle kommen an die Macht nur, um sich das Portemonnaie vollzustopfen.
Toms Garten ist sehr gepflegt. Ein schmaler Pfad läuft zwischen zwei Reihen von kleinen und sauber geschnittenen Büschen ins Dunkle des hinteren Gartenteils, wo neben einer schlicht gebauten Hütte riesige Bäume ein Gefühl vermitteln, man sei in einem richtigen Wald. Auf einem Baum versteckt sich noch ein Häuschen, ganz klein und von unten kaum zu sehen. Er hat es für seinen Sohn gebaut, er ist jetzt aber zu groß dafür. Vielleicht für die Enkelkinder, lacht er.
Tom wird in der Wissenschaft als „Consistent News Avoider“ beschrieben – ein konsequenter Nachrichtenvermeider. Also, derjenige, der Nachrichten so gut wie nie nutzt – wir haben ihn als Non-User bezeichnet. Konsequentes Vermeiden von Nachrichten ist in der Regel ein „habituelles Verhalten“, das sich nicht eindeutig in die Kategorien absichtlich oder unabsichtlich einordnen lässt. Konsequentes Nachrichtenvermeiden hängt mit vielen Faktoren zusammen. Meistens wurzelt es noch in der Kindheit: Wenn in der Familie keine Nachrichten konsumiert wurden, werden esdie Kinder später wahrscheinlich auch nicht tun. Es hat auch mit der sozialen Umgebung zu tun: Forschende sprechen über „News Communities“ – Menschen konsumieren Nachrichten selten einfach für sich selbst, denn Nachrichten sind etwas, worüber man spricht.
Erstmal sehr wichtig: Konsequente Nachrichtenvermeider·innen gibt es in allen sozialen Schichten.
Tendenziell ist jedoch der Bildungsgrad bei den Menschen, die so gut wie nie Medien nutzen, niedriger als im Durchschnitt und der Hochschulabschluss seltener.
Das heißt zwar nicht, dass alle Non-User schlechter gebildet sind. Die Wahrscheinlichkeit ist aber größer.
Sie verdienen tendenziell auch weniger.
Es gibt auch Unterschiede in der politischen Orientierung, die sind aber nicht so groß.
Signifikant größer ist unter Non-User nur der Anteil der Menschen, die politisch unentschieden sind. Wie Tom eben.
Non-User sind mehrheitlich weiblich, aber es ist keine große Mehrheit.
Was Non-User tatsächlich auszeichnet, ist das mangelnde Interesse an Nachrichten… In der Grafik unter „äußerst interessiert" steht 0,0 %. Das kommt in den ganzen DNR-Daten überhaupt äußerst selten vor!
Non-User interessieren sich auch weniger für Politik. Logisch. Das ist auch der Grund, warum sie in der eigenen politischen Orientierung unentschieden sind.
Tom ist ein „klassischer“ Nachrichtenvermeider. Er nutzt so gut wie keine Nachrichten und interessiert sich kaum für Politik. Er ist ein toller Typ, wahnsinnig herzlich, zuversichtlich und hilfsbereit. Er mag Menschen und Natur, er lebt im Einklang mit sich selbst. Manchmal ärgert er sich über die Umstände und drückt seinen Unmut scharf aus.
Die Medien sind kein Teil seines Lebens.
Ihn zu erreichen ist tricky. Eigentlich möchte er von Medien auch nicht erreicht werden. Auch mit einem Interview war es schwierig.
Und wie ist es mit den anderen?
Clara ist begeistert von Musik, sie spielt jedoch keine Musikinstrumente. Sie legte auf und wollte der Musikwelt angehören. Nach dem Abi bewarb sie sich für ein Studium als Toningenieurin. Nach zwei Aufnahmeprüfungen ist sie jedoch nicht genommen worden. Studiert hatsie trotzdem, nämlich Kulturwissenschaften. Es hörte sich interessant an und hat mit Kultur zu tun. Sie stellte schnell fest, es ist ihr viel zu theoretisch, und sie sah keinen Ansatzpunkt für sich, das zum Beruf zu machen oder irgendwie anwenden zu können. Nach dem Bachelor will sie weiter studieren und landet in einem Studiengang für Kulturmanagement.
Aus dem Musiktraum wird erstmal nichts. Sie arbeitet für verschiedene kleine Firmen, für die sie ein bisschen Organisation, ein bisschen Administration, Marketing, PR, Social Media, Buchhaltung macht. Solche Geschichten. Sie macht noch eine Ausbildung zur Yogalehrerin. Sie hat zwei kleine Kinder. Arbeitet hauptsächlich aus dem Homeoffice.
Ihre Welt ist heil. Im Gegensatz zu der da draußen.
Früher hat sie viel auf ZEIT ONLINE gelesen, ab und zu las sie auch den SPIEGEL. Sie ist ständig auf den Seiten gewesen und hat immer geguckt, was es Neues gibt.
Es war am Anfang der Pandemie, als sie merkte: Sie hängt auf den News-Seiten immer rum und die News ziehen sie runter. Ihr geht es dabei gar nicht gut. Irgendwann versucht sie, ohne auszukommen und merkt: fehlen tut´s ihr nicht. Ihr iPhone zeigte früher immer noch so ein Überblick von Nachrichten, zumindest die Headlines. Sie hat diese Funktion nicht bewusst genutzt, und es ist irgendwann irgendwie von ihrem Bildschirm verschwunden. Sie wollte es wieder einstellen, auf die Schnelle hat sie nicht gefunden, wie man's macht und damit war´s das dann auch.
Mit Corona an sich hat das nichts zu tun. Aber in dieser Zeit fällt ihr auf, dass die Nachrichten echt negativ sind. Es passiert immer etwas Schlimmes – zum Beispiel ein Busunglück in irgendwo und 30 Kinder sind verbrannt – und sie trägt schwer an diesen schlimmen Nachrichten. Im Politikteil geht es oft um einen schlichten Meinungsaustausch, wo Meinungen einfach gegeneinander geworfen werden, ohne irgendwohin zu kommen. Auch Sensationalismus, der mit einer Weltuntergangsstimmung gekoppelt ist, zieht Clara runter: „Oh, Gott, Oh Gott, die AfD wieder oder was auch immer“. Manche Themen sind einfach zu komplex, und da will sie gar nicht erst einsteigen. Und sie hat generell Unbehagen und manchmal Angst, so dass sie immer abwägen muss, bis zu welchem Grad sie sich den Nachrichten aussetzt. Auch ihrem Mann hat sie verboten, über das weltpolitische Geschehen zu reden. „Ich habe das abgeschafft“ – sagt sie. Wie wir sehen werden – nicht ganz.
Die Menschen, die sagen, sie vermeiden Nachrichten aktiv und oft, unterscheiden sich im Profil von denen, die sie „einfach so“ nicht nutzen.
Sie sind tendenziell ein bisschen besser gebildet.
Sie verdienen etwas mehr.
Mit der Ausnahme einer Gruppe, die mehr als 100.000 Euro im Jahr verdient – da ist die Zahl der Non-User erstaunlich hoch.
Sie sind noch ein bisschen häufiger weiblich.
All das ist aber nichts, wo die Unterschiede wirklich signifikant sind. Auch nicht bei den politischen Einstellungen.
Was diese Gruppen wirklich unterscheidet – Clara von Tom zum Beispiel – ist das generelle Interesse an Politik…
… und das generelle Interesse an Nachrichten.
Das ist der entscheidende Punkt: Während nur 15 % der Non-User überhaupt Interesse an News zeigen, ist diese Zahl unter Menschen, die Nachrichten oft vermeiden, 62 %. Zwei Drittel.
Clara interessiert sich durchaus auch heute noch dafür. Mit den Nachrichten hat sie aber eben drei Probleme: Erstens ist ihr das alles einfach zu viel, zweitens empfindet sie die meisten Nachrichten als irrelevant für ihre Lebensrealität und drittens, das größte Problem: Sie selbst hat (meistens) keinen Einfluss auf die Geschehnisse, über die sie liest. Der Fakt, dass sie weiß, dass 30 Kinder in einem Busunfall verbrannt sind, hat keinen positiven Einfluss auf das Geschehen selbst und auch sonst hat niemand etwas davon, dass sie darüber Bescheid weiß.
Aber sie weiß Bescheid. Erstens kriegt sie die größten Nachrichten schon irgendwie mit: von Bekannten, von ihrem Mann, der ihr (zum Teil entgegen ihres Verbots) von politischen Ereignissen berichtet, oder weil man sich manchen Dingen gar nicht entziehen kann, solange man das Internet nutzt.
Außerdem hat sie für sich ein Medium gefunden, mit dem sie zufrieden ist: Perspective Daily. Da erscheinen nur einige (meistens lange) Artikel pro Woche, mit sehr kuratierten Themen. Es ist zwar nicht ganz so nah am Zeitgeschehen dran, es ist aber eine gute Alternative, um die wichtigsten Themen mitzukriegen und in die Tiefe zu gehen. Auch zu Themen aus Gesellschaft und Politik.
Sie zahlt auch dafür: 4 Euro monatlich. Sie ist also nach der Reuters-Definition eine „News Avoiderin“, die aber gleichzeitig auch zu der gesellschaftlichen Minderheit gehört, die bereit ist, für Online-Nachrichten Geld zu bezahlen. Das sind in Deutschland nur 13 Prozent - weniger als der Anteil der Menschen, die Nachrichten oft vermeiden.
Auch Michael gibt für Nachrichten Geld aus, mindestens das Dreifache von Clara. Analog und digital.
Ich habe es bereits erwähnt: Michael ist wohlhabend. Er hat ein großes Haus mit einem großen Garten, das er kurz vor der Pandemie gekauft hat. Es ist ein sehr schönes altes Haus, liebevoll und aufwändig eingerichtet. Wenn man sich dem Garten nähert, hört man viele Stimmen und fröhliches Lachen. Das Leben hier scheint schön und unbeschwert zu sein. Wir sprechen über Kinder, über die Arbeit, über Reisen in ferne und weniger ferne Länder, über Immobilien, über dies und das. Ab und zu gehen wir zu einem großen Tisch, gedeckt mit allerlei Essen und Getränken. Das Essen hat Michael selbst gekocht. Er ist ein guter Koch und kocht gerne, besonders für Gäste.
Immobilien werden hier nicht als Geldanlage besprochen. Und die Reisen nicht (nur) als Tourismus und Urlaub. Michael hat sich nämlich entschieden, auszuwandern. Einige seiner Gäste spielen auch mit dem Gedanken. Grund dafür, oder zumindest der Auslöser: die Pandemie. Und die Medien.
Michael kam in den 80ern durch den Historikerstreit in die Welt der Nachrichten. Für ihn war es eine tolle Sache, dass sich über mehrere Medien hinweg zu einem Thema gestritten wurde. Das hat ihn damals sehr inspiriert – und zwar eben die Debatte als solche, als eine lange, tiefe und konstruktive Auseinandersetzung mit einer Thematik, mit pro und contra, ohne dass jemandem am Ende Recht zugesprochen wurde. Ohne die anderen Meinungen und deren Träger zu ruinieren. Diese Tiefe und Multiperspektivität schätzte er auch lange Zeit an Öffentlich-Rechtlichen. Er hat aber das Gefühl, sie schrumpfe immer weiter.
Michal formuliert es einmal eindeutig: „Ich will in einem Land leben, wo ich das Fernsehen anschalte und nicht verstehe, worum es da geht“. Und wo die Nachbarn nicht auf ihn schauen. Ach ja, die Nachbarn. Das war in der Zeit der Pandemie sein Problem: Er war nämlich kein Corona-Leugner oder Verschwörungstheoretiker.
Er stritt mit Verwandten, die Corona leugneten - in seiner Familie gab es nämlich das ganze Spektrum Überzeugungen von Panik bis Verschwörungstheorien. Michael öffnete Türen während der Pandemie mit dem Ellenbogen und trug eine Maske. Er hatte selbst aber keine größere Angst vor Corona. Er wollte dieses komplexe Thema verstehen, Pro und Contra, aus verschiedenen Perspektiven. Die Geschwindigkeit und Zahl der Meldungen war aber extrem groß und seiner Meinung nach auch nicht ausgewogen. Wenn er konkrete Dinge verstehen wollte und Fragen gestellt hat - ob die eine oder andere Maßnahme Sinn macht oder gegebenenfalls anderweitige schwere Folgen haben kann - wurde er den Verschwörungstheoretikern oder den Rechten zugeschrieben, von Nachbarn, von Bekannten und Fremden.
Er wird emotional, wenn er darüber spricht.
Das Manko der heutigen Medien sieht er in der Schnelligkeit: Die Geschwindigkeit, mit der Nachrichten – ob zu Corona oder nicht – in die Weltöffentlichkeit gepustet werden, würde Tiefe einfach nicht zulassen. Das Diskursive, was er Pro und Contra nennt, falle weg. Oder werde dadurch ersetzt, dass die beliebigen Meinungen einfach rausgehauen werden. Das Komplexe, das Diskursive sei aber unheimlich wichtig. Für die Demokratie.
Nach langer Suche kauft er sich ein zweites Haus, mehr als 2000 Kilometer von diesem entfernt, auch mit einem großen Garten. Da wachsen aber keine Kastanien, sondern Zitronenbäume und von der Terrasse schaut man nicht auf die Nachbarhäuser, sondern auf den Ozean. Die Nachbarn schauen auch auf den Ozean und nicht auf sein Haus. Und nicht auf ihn.
Ich habe diesen Text damit angefangen, dass Michael und Clara wenig gemeinsam haben. Sie haben wirklich wenig gemeinsam. Selbst die Nachrichten vermeiden sie unterschiedlich: Beide wollen zwar Nachrichten ausschalten, entwickeln aber dabei eigene Strategien, sich fern zu halten und trotzdem am Ball zu bleiben. Und dabei haben sie eben doch auch eine Menge gemeinsam, auch mit anderen „News Avoiders“ mit denen ich gesprochen habe. Und vielleicht auch mit dir.
Die vermutlich wichtigste Gemeinsamkeit: Sie leben in einer komplexen Welt und finden es super, dass die Welt komplex ist.
Sie drücken es unterschiedlich aus. Clara meint, sie fühlt sich im Kopf besser, wenn sie zum Beispiel ein Buch liest, gerne ein anspruchsvolles Sachbuch. Da hat sie das Gefühl, dass sie wirklich im Thema ist und dann bleibt sie auch über einen längeren Zeitraum dran. Sie kann sich mit einem Thema in der Tiefe auseinandersetzen, statt schnell von einem zum anderen zu springen oder über die schreienden Headlines zu scrollen. Es könnte auch eine Ausstellung sein, wo man mit einem Thema einen ganzen Nachmittag verbringt. Es könnte auch ein Artikel in einem digitalen Medium sein, darum geht es gar nicht. Der Unterschied macht die bewusste Entscheidung und die Möglichkeit, tiefer einzutauchen.
Michael tickt anders. Er ist eher diskursiv unterwegs und will sich eine Sache möglichst unvoreingenommen und unaufgeregt von verschiedenen Seiten anschauen, bis er durch eine kognitive Anstrengung selbst zu einer Schlussfolgerung kommt. Das dauert meistens. Komplexität und Tiefe sind aber die Stichwörter, die er immer wieder benutzt.
Auch für Daniel (30) ist die Komplexität das Schlüsselwort. Ebenso für Jonas (25), Maria (31), Jule (41) und Lucia (33). Alle sehen den Verlust an Komplexität in den Medien als Problem. Und einen der Gründe für das Vermeiden der Nachrichten. Sie schalten die Nachrichten aus, weil sie das Gefühl haben, die Medien bilden die komplexe Welt, in der sie leben, nicht mehr ab. Vielleicht sogar: weil sie (gefühlt) nicht (mehr?) in der Lage sind, ein belastbares Bild einer komplexen Realität zu zeichnen. Sie alle vermeiden die Nachrichten nicht einfach. Sie suchen nach eigenen Strategien, wie sie mit den Medien umgehen und interagieren. Und sie suchen nach Alternativen – im Analogen wie im Digitalen. Sie bauen mühsam eine eigene mediale Umgebung auf. Das ist weder gut noch schlecht, es ist einfach so.
Für Medien ist es eine Chance.
Vermeidung bzw. Nichtnutzung von Nachrichten ist ein komplexes Phänomen, das von Medien eine ebenso komplexe und durchdachte Strategie erfordert. Wichtig ist dabei, dass man zwischen verschiedenen Gruppen unterscheidet: zwischen konsequenten Non-Usern und denjenigen, die Nachrichten vermeiden. Sie überlappen sich zwar, sind aber unterschiedlich.
Die Gruppe von Non-Usern ist relativ klein. In der Regel mangelt es ihnen sowohl an Interesse, als auch an Vertrauen. Diese Gruppe ist auch weniger zahlungsbereit, was sie für Journalismus aus wirtschaftlicher Perspektive nicht besonders interessant macht. Non-User und Medien bewegen sich anscheint in unterschiedlichen Universen.
Die Gruppe der „Nachrichtenvermeider·innen” ist deutlich größer und, ausgehend von vorhandenen Daten, wächst weiter. Viele davon haben aber durchaus Zugang zur Medienwelt und Interesse an Nachrichten und Politik. Und viele versuchen, eine eigene Strategie für den Umgang mit Medien zu erarbeiten. Das ist der Punkt, wo Medien, aber auch Journalist·innen ansetzen sollten: Wenn Nachrichtenvermeider·innen nach einem neuen Zugang suchen, sollten die Medien ihn anbieten. Es sind sicher mehrere Ansätze denkbar. Mein Vorschlag:
Die Komplexität der Welt als einen Wert anzuerkennen und sie in den Vordergrund zu stellen.
Die Menschen vermeiden Nachrichten aus mehreren Gründen. Das ist vor allem die Menge an Nachrichten, deutlich weniger – das Vertrauen oder Mangel an Zeit. Das spiegelt sich auch in Umfragen wieder: Mehr als 40 Prozent der Menschen fühlen sich 2024 erschöpft von der Menge der Nachrichten. Unter denen, die Nachrichten oft vermeiden, sind es fast 80 Prozent. Es wird auch über (vermeintliche) Negativität der Nachrichten gesprochen.
Alle drei Elemente – Menge, Negativität und Vertrauen – lassen sich im Journalismus angehen. Zu viel Information und vermeintliche Negativität resultieren oft aus der Geschwindigkeit und Fragmentierung der Berichterstattung. Diese findet punktuell und vornehmlich „krisenbedingt“ statt: Es wird berichtet, wenn etwas brennt und je doller es brennt, desto mehr wird berichtet. Wenn es brennt, das wissen wir ja, wird man normalerweise lauter. Wenn man laut ist, wird man zwar gehört, aber selten verstanden. Eine mögliche Alternative: Langsamer und seltener berichten. Dafür aber hintergründiger und verständlicher. Anderes formuliert: Erzählt die ganze Geschichte statt lauter Info-Häppchen. Auch die News-Junkies werden dafür dankbar sein.
Geschwindigkeit und Fragmentierung fördern nicht unbedingt das Verstehen einer komplexen Welt - eher im Gegenteil. Sie fördern die Wahrnehmung davon, dass in der Welt alles gerade in die Hose geht. Das kann durchaus eine schlechte Laune machen, vor allem, wenn man selbst nichts dagegen tun kann. Aus meinen Interviews konnte ich jedoch entnehmen, dass Menschen Nachrichten nicht deshalb vermeiden, weil sie über das Schlechte in der Welt berichten und man das ausblenden will. Die Menschen vermeiden Nachrichten, weil man sich verloren und entmächtigt fühlt. Das Minimum für eine Ermächtigung ist das Verstehen davon, was es vor sich geht. Und die Möglichkeit, mit den Krisen souverän umzugehen - sei es Krieg, Krankheit, Naturkatastrophe oder Klimawandel. Dieser souveräne Umgang ist in der Regel kognitiver Natur - ich habe verstanden, worum es geht, ich weiß, warum es für mich relevant ist, ich weiß auch, womit es zusammenhängt. Und das macht Spaß.
Ich nenne es Freude an der Komplexität.
Keine (reine) Unterhaltung. Und keine (reinen) Good News. Das Negative in der Welt kann Freude bereiten. Keine Schadenfreude. Ich spreche von einer Freude, die der Philosoph Merab Mamardaschwili „Ästhetik des Denkens“ genannt hat: Das Denken hat eigene Ästhetik, die Freude bringt, manchmal die einzige Freude, die einem überhaupt zur Verfügung steht. Sie besteht darin, dass man auch dann denken kann, wenn es weh tut. Und dabei kann man auch Freude empfinden, Freude darüber, dass man etwas durchgehend verstanden hat.ist. Solche Momente kennst Du bestimmt auch.
Wie wäre es, wenn wir versuchen würden, bei jedem journalistischen Text diese Ästhetik zumindest ansatzweise zu nutzen: Die Welt ist komplex, und das ist gut so. Wir sollten überlegen, wie wir das für Nutzer·innen erfahrbar machen können. Vielleicht liegt es an der Form, wie wir es erzählen? Vielleicht an den Visualisierungen? Vielleicht am Narrativ? Vielleicht schlicht am Inhalt? Ganz sicher: auch an den Autor·innen, die es schreiben und Redakteur·innen, die es redigieren.
Es geht also um Empowerment. Und die fängt damit an, dass man versteht. Wie Lukas Nelson den Ursprung seiner News Avoidance in seinem Song beschreibt: „All these other thoughts have me confused“. Und dann steht man auf der Kippe. Nelson schwenkt in die Richtung: “I don't need to try and understand” und zieht sich in ein Umfeld zurück, in man die Sachen in die eigene Hand nehmen kann, in seinem Fall in den (Eden-)Garten (“We might feel a bit less hardened / We might feel a bit more free”). Clara hat Yoga und Bücher, Michael den Ozean.
Das Rauschen des Ozeans klingt anders als das Rauschen des Weltgeschehens.
Es ist Abend. Michael ist ausgewandert, um mit Nachrichten nichts mehr zu tun zu haben. Er sitzt auf der Terrasse und spürt eine warme Brise. Er schaut auf die Zitronenbäume, die weite Küste und den Horizont. Und hört Deutschlandfunk.
Ich frage ihn: “Warum machst du das?”
“Gute Frage! Brauche ich das überhaupt? Eigentlich brauche ich es nicht. Ich weiß es nicht, kann ich dir gar nicht beantworten. Vielleicht ist es eine Gewohnheit? Oder vielleicht ist es auch so eine Lust daran zu sehen, dass sich eben doch nichts ändert auf der Welt? Ich weiß es nicht. Ich muss mal überlegen. Warum partizipiert man daran? Eigentlich ist es auch ein Grund, weshalb ich hier bin. Eigentlich will ich mich damit nicht mehr auseinandersetzen und ich stelle fest, ich tue es trotzdem noch. Ich muss mal nachdenken.”
Ich glaube, wir alle müssen mal darüber nachdenken.
Wollen wir gemeinsam darüber nachdenken? Schreibt mich gerne an. Meine Adresse findet ihr unten.
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Recherche und Text: Leonid A. Klimov Illustrationen: Lena Gordeeva Datenvisualisierung: Artyom Schtschennikow Redaktion: Christian Simon Veröffentlichungsdatum: 20. Dezember 2024
Im Projekt wurden Umfragedaten verwendet, die für den Digital News Report zwischen 2017 und 2024 erstellt wurden:
Newman, N., Fletcher, R., Robertson, C. T., Ross Arguedas, A. A., & Nielsen, R. K. (2024). Reuters Institute Digital News Report 2024. Reuters Institute for the Study of Journalism.
Ich danke Richard Fletcher (Reuters Institute for the Study of Journalism) für die Rohdaten.
Dieser Text ist entstanden im Rahmen des Future of News Fellowships beim Media Lab Bayern.
Ich danke Christian Simon für die Unterstützung und die Begleitung durch das Thema, dem Team des Media Lab Bayern für die Möglichkeit, sich damit zu beschäftigen und für das Vertrauen mir gegenüber. Ich danke auch meinen Mit-Fellows für anregende Gespräche, Feedback, Kritik und Ermutigung, am Ball zu bleiben. Ich danke meinen Gesprächspartner·innen ebenso für Vertrauen und Offenheit.
Ich danke Euch für Eure Geduld.
Wer bin ich?
Ich bin Wissenschaftsredakteur und Produzent von Medienprojekten an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Journalismus. Ich bin promovierter Kultur- und Literaturwissenschaftler (Sankt Petersburg) sowie Kultur- und Medienmanager (MA, Hamburg). 2x mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet, 2016 als Redaktionsmitglied von dekoder.org und 2021 als Redakteur und Produzent von dekoder-Specials. Das neueste Projekt „Der Krieg und seine Opfer” wurde auf den Grimme Online Award 2024 nominiert.
Wollen wir was zusammen machen?
mail@leonid-klimov.net